Liebe Leserinnen und Leser,
im Frühjahr fiel mir ein Bild von J. E. Millais (1829-1896) in die Hände: The blind girl.
Es ist ein sehr farbintensives, in gewissem Sinne kitschiges Bild. Inmitten einer goldgelb-spätsommerlichen, vom Regen gewaschenen und dadurch aufleuchtenden englischen Landschaft sitzt ein blindes junges Mädchen mit rötlichem Haar und leuchtend orangem, zerschlissenem langem Rock am Wegesrand; neben ihr, an ihre Schulter geschmiegt ein kleineres blondes, blauberocktes Mädchen, mit einer Hand die des blinden Mädchens fest umschließend. Dessen Gesicht lebt von einer tiefen Innigkeit des Moments, eingebettet in die durch detailreiche Darstellungen betonte zeitlose Schönheit der Landschaft, die dem blinden Mädchen in dieser uns dargestellten Sichtbarkeit verborgen bleibt. Das Bild rührte mich auf seine Art sehr an. Sehen und Nicht-Sehen, das Thema ist weit.
Wäre es nicht wunderbar, sämtliche auf der Welt vorhandenen Bilder einmal vereint zu sehen, sie an einem großen Ort zusammenzutragen? Aus den verschiedensten Epochen, Regionen, gemalt von den unterschiedlichsten Menschen, aus unterschiedlichsten Blickwinkeln und Bedürfnissen heraus? Zugegeben, die Durchführung scheint schwierig, aber wäre es nicht ein sonderbar erhellender Blick auf ein großes Mysterium? Ein erhebender Augenblick?
Sich von etwas ein Bild machen, und dieses Bild bestehen zu lassen. Ist es nicht gerade ein seltsamer Widerspruch, dass die Bilder uns überdauern? Ein Porträt, gemalt in der Gegenwart einer Person, lebt fort, vorausgesetzt, die Umstände erlauben es, während sich die leibliche Präsenz dieses Menschen verliert.
Es ist eine Art Respekt vor dem Leben, dem Menschsein, der Natur wie der Kultur, den uns der Blick auf die Bilder einflößt. Denn mittels ihrer herausgestellten Details innerhalb der wie auch immer gearteten Umrahmung erfahren wir ein Stück Welt. Und dies nicht nur in rein geistiger Weise, sondern mittels einer sinnlichen, be-greifbaren Materialität. Ein Medium der Hervorbringung einer materiell unbeweglichen Gestalt, die ihr Leben in der begrenzten Fläche gewinnt, um doch geistig unbegrenzt beweglich zu sein.
In dieser Ausgabe laden wir unsere Leserschaft dazu ein, sich den gemalten Bildern zuzuwenden, die doch zu einem Teil immer auch nur Bild sind, unabhängig von ihrer materiellen Hervorbringung. Deshalb haben wir in großzügiger Weise auch wieder einige Grenzbereiche abgesteckt, so dass sich die Malerei in ihrem Wesen umso deutlicher hervorheben kann. So finden Beiträge zum Verhältnis von Malerei und Schrift, Malerei und Fotografie ihren Platz oder auch eine spezielle Technik wie die Lithographie, wie sie uns in Paul Wunderlichs Werk begegnet. Eine philosophische Auseinandersetzung mit der Landschaftsmalerei sowie eine kulturhistorische mit dem Bilderverbot bieten weitere Anregung zum Thema.
Den eindrucksvollen Essay des amerikanischen Malers und Autors John Berger möchte ich als eine Art Boden für das Anliegen dieses Heftes hervorheben. Wo hat die Malerei ihren Raum? Dieser Raum breitet sich aus für eine Collage über Äußerungen einiger Künstler zum Thema Was ist Malerei? ebenso wie für die Frage, wie Malerei sich dem Betrachter zu präsentieren sucht.
Nicht zuletzt finden Sie im Zusammenspiel von Lyrik, Prosa und Malerei zum einen das Spiel von Farbe und Form, zum anderen die Suche nach Ausdruck für Drängendes, Bewegendes, Seiendes und Werdendes.
Tanja Porstmann |